Auszug aus
dem Roman “Die Zeit der roten
Früchte”, Arche 2008
Von Wiebke
Eden
Als um drei
Uhr der Wecker klingelte, stand
Greta auf, die Haare klebten ihr
auf der Stirn, sie wusch und
bürstete sich, blieb einen Moment
an dem Bett stehen, in dem ihr
Kind schlief, nur einen
verstohlenen, dämmrigen Augenblick
lang. Sie ging in die Küche und
kochte sich Haferschleim. Bevor
sie das Haus verließ, warf sie
einen Blick in den Flurspiegel.
Greta trug Uniform. Lodenjacke,
Lodenrock, Lodenmütze, versehen
mit den Abzeichen der
Nationalsozialisten. Sie runzelte
die Stirn, jeden Morgen tat sie
das, und zog eilig den Wollmantel
über. Leichter Nebel waberte über
dem Land, die Kälte schlich ihr in
den Nacken, Greta klappte den
Kragen hoch und ging in
ausladenden Schritten die Straße
entlang. Ein länglicher Schuppen
tauchte auf, das Straßenbahndepot.
Sie trat auf einen flachen Bau aus
Klinkersteinen zu, die Fenster
waren dunkel. Der feuchte Kies
knirschte unter ihren Sohlen, als
sie vor der Tür Halt machte, den
Schlüssel aus ihrer Manteltasche
zog und aufschloss. Es roch nach
kaltem Rauch und Wachstuch. Greta
knipste das Licht an.
Zichorienkaffee
dampfte aus der Kanne, als die
Kollegen eintrafen, Fahrer und
weitere Schaffnerinnen. Manchmal
kamen Arbeiter und hämmerten an
den Wagen und Schienen, ehe sich
Frauen der ersten Tour,
ausgestattet mit Umhängekasse,
Fahrscheinblocks und Lochzange,
auf die drei Waggons verteilten.
Greta stieg zum Fahrer in den
vorderen Wagen. Mit einem
Quietschen fuhren sie an. Noch
hatte sich der Nebel nicht
gelichtet, und auf den Schienen
hafteten braun verfärbte Blätter.
An den ersten Haltestellen
warteten Werftarbeiter,
Bootsleute, Bäckersfrauen. Die
meisten kannte Greta, zumindest
vom Sehen.
(…)
In Frauendorf
stieg ein Mann zu, den Greta aus
dem Wirtshaus kannte. Der mit dem
Leberfleck. Greta errötete. Eine
Sechs-Fahrten-Karte, bitte. Macht
neunzig Pfennig, Greta gab ihm den
Fahrschein. Der Mann lächelte und
sagte, dass sie also keine Zeit
mehr habe, ins Wirtshaus zu
kommen. Der Mann zählte ihr die
Münzen in die Hand, und Greta, die
aus Scham lieber nicht mit ihm
sprach, wünschte gute Fahrt. Am
nächsten Morgen saß er wieder in
der Bahn.
(…)
Der Mann mit
dem Leberfleck hielt ihr den
Fahrschein entgegen. Greta
räusperte sich und fragte, wie es
denn gehe im Wirtshaus. Die
anderen, was machen die? Der Mann
zuckte die Achseln. Er sei auch
nicht häufig dort, sagte er,
streckte das eine Bein, um den
Fahrschein in die Hosentasche zu
stecken. Er musterte Greta
freundlich. Gut stünden ihr
Jackett und Rock. Greta griff sich
an den Kragen. Knöpfe bis oben
hin. Sie suchte nach etwas
Kokettem, Spöttischem, das sie
hätte sagen können, stattdessen
fasste sie nach dem Riemen ihrer
Umhängetasche und wünschte einen
guten Tag. Der Mann tippte grüßend
an seine Mütze.
(…)
Einmal die
Sechserkarte, bitte. Macht neunzig
Pfennig, sagte Greta, obwohl sie
inzwischen wusste, dass der Mann
mit dem Leberfleck den Betrag
kannte. Immer hielt er die Münzen
abgezählt parat: Er zog die
geballte Faust und hielt ihr,
nicht ohne einen prüfenden Blick
darauf zu werfen, das Geld
entgegen. Greta fiel auf, dass der
Mann eine breite Nase hatte, die
er an der Wurzel krauste, wenn er
lächelte. Sein dichtes schwarzes
Haar kämmte er über den Kopf in
den Nacken. Manchmal war er
rasiert, manchmal nicht. Manchmal
rochen seine Hände, wenn er ihr
die Münzen hinhielt, nach
Schmieröl. Greta lochte Billetts
und beobachtete ihn aus dem
Augenwinkel. Mit der Hand in der
Hosentasche sah er aus dem
Fenster, und wenn er ausstieg,
lächelte er ihr zu. Sie lächelte
zurück. Eines Morgens, er griff
nach seiner Mütze und trat an sie
heran, sagte er, dass er Edgar
heiße, Edgar Marek.
(…)
Edgar Marek
erzählte, dass er bei seiner
Schwester lebe und Bootsmann sei,
Bootsmann in Zivil, zur Zeit an
Land, aber bald werde er wieder
auf dem Wasser sein. Bis in die
Südsee sei er gereist, immer habe
er die Hand über die Augen halten
müssen, so hätten die Sonne und
das Meer geblendet, und einmal
hätten sie ein Känguru an Bord
gehabt. Ein Känguru?, fragte Greta
ungläubig, und die Straßenbahn
läutete bei der Abfahrt. Ein
Känguru, bekräftigte Edgar, geboxt
habe das, und sie seien in Deckung
gegangen, ein blaues Auge habe
niemand riskieren wollen. Greta
erzählte, dass sie Schafe hüte und
Gänse rupfe, aber die Schafe seien
ihr lieber als die Gänse. Warum?,
fragte Edgar und stützte seinen
Arm auf die Sitzlehne vor sich.
Wegen der Wolle, sagte Greta, wie
sie riecht. Das ist nicht
jedermanns Sache, bemerkte Edgar
lächelnd, und Greta zuckte die
Achseln. Im Frühjahr würden die
Schafe geschoren, die Wolle würde
gewaschen und zum Trocknen nach
draußen gelegt, erzählte sie,
lauter Wolken auf der Erde.
An einem
Nachmittag stieg Edgar Marek auf
dem Rückweg ein. Überrascht sah
Greta ihn an. Ob das ihre letzte
Tour für den Tag sei, fragte
Edgar. Die nächste könnten sie
gemeinsam fahren, bis zum
Kaiser-Wilhelm-Denkmal, da gebe es
eine Konditorei, guten Napfkuchen
sollen die haben. Erwartungsvoll
blickte er sie an. Greta zögerte.
Sie würde sich für die Mutter
wieder eine Ausrede einfallen
lassen müssen. Da sie unschlüssig
schwieg, schaute Edgar kurz aus
dem Fenster, dann an sich
hinunter. Hemd und Hose hatten
Schmierflecken, auch seine Schuhe.
Er nahm seine Mütze vom Kopf,
strich sich übers Haar und setzte
die Mütze wieder auf. Nun ja, er
räusperte sich, vielleicht ein
andermal. In Frauendorf stieg er
aus und Greta sah, dass er beim
Gehen leicht mit dem Oberkörper
schaukelte.
Es fror in der
Nacht und der Morgen kroch kalt
durch die Knopflöcher, als Greta
in schnellen Schritten zur
Straßenbahn ging. Immerhin löste
sich die Dunkelheit früher auf als
sonst. Die ersten Tage dachte sich
Greta nichts dabei, dass Edgar
fehlte. Dann überlegte sie, dass
er vielleicht eine Tour später
fuhr, um ihr aus dem Weg zu gehen.
Sie hatte seine Einladung nicht
angenommen. Allerdings auch nicht
ausgeschlagen, das würde sie ihm
beim nächsten Mal sagen. Edgar
blieb weg. Greta schaute auf die
Bank, auf der er sonst saß, mit in
den dämmrigen Morgen gerichtetem
Blick, und Greta dachte daran, wie
er das Bein streckte, um die
abgezählten Münzen aus der
Hosentasche zu ziehen, wenn sie
neben ihn trat. Wie er dabei mit
gekrauster Nasenwurzel lächelte
und wie sie gern einmal über die
krause Stelle streichen würde.
Einmal die Sechs-Fahrten-Karte,
bitte, ein Mann hielt ihr seine
Hand mit Münzen hin. Greta griff
in die Tasche mit den
Fahrscheinen. Macht neunzig
Pfennig.
Die Deutschen
machten nicht mehr gemeinsame
Sache mit den Sowjets, und der
Knecht des Nachbarbauern, der mit
Greta auf den Markt gefahren war,
starb in Russland. Wie der
Schlosser-Schorsch. Mit schwarzem
Kopftuch ging seine Mutter die
Buchholzer Flur entlang. Sie kam
zum Tee, und Gretas Mutter goss
Rum dazu. Die Mutter vom
Schlosser-Schorsch legte das
Kopftuch ab, strich sich übers
Gesicht, nahm die Tasse und trank
auf das Vaterland. Ellen krabbelte
auf dem Boden. Ihr Haar war
gewachsen und lockte sich an den
Enden. Die Mutter vom
Schlosser-Schorsch stellte die
Tasse ab, mit zitternden Händen
und Greta tat die Frau leid. Sie
ging in den Stall und sägte
Bretter zurecht, um eine Box
auszubessern. Späne fielen zu
Gretas Füßen, als sich die
Metallzinken durchs Holz fraßen
und ihr der Gedanke kam, dass auch
Edgar auf dem Weg nach Russland
sein könnte.
Der blecherne
Fisch hing noch da. Greta streckte
den Arm aus, um ihn zu berühren.
Der Fisch quietschte. Greta betrat
das Wirtshaus. Viele Gesichter
waren ihr fremd, aber manche
erkannte sie wieder. Die Wirtin
stellte ihr einen Schnaps hin,
doch Greta schob ihn unauffällig
beiseite, während sie in ihrer
Tasche nach Zigaretten suchte. Sie
setzte sich auf einen Barhocker,
zog ihre Jacke aus und legte ihren
Unterarm auf die Theke. Ihre Haut
klebte auf dem Holz. Flecken,
wahrscheinlich von zuckrigem
Schnaps. Alles schien plötzlich
Flecken zu haben, die Wände, die
Fußbodendielen, das Kleid der
Wirtin. Doch die Wirtin lächelte
und sie trug noch immer den
Lippenstift, den Greta kannte.
Greta ließ sich von ihr Feuer
geben. Sie rauchte eine zweite,
die sie nach der Hälfte einem
neben ihr stehenden Matrosen
schenkte. Sie schlüpfte wieder in
ihre Uniformjacke, und beim
Hinausgehen fragte sie, ob jemand
Edgar Marek gesehen habe.
Greta ertappte
sich dabei, dass sie Männern auf
den Nacken schaute, wenn sie vom
hinteren Teil des Wagens in den
vorderen ging. Ein Bootsmann im
Wirtshaus hatte ihr gesagt, dass
Edgar auf See sei. Greta wusste
von bombardierten Schiffen und
hoffte, Edgar möge eines Tages
unvermittelt wieder in der
Straßenbahn sitzen. Sie sah
rasierte und behaarte Nacken,
rosige und gebräunte, schlanke und
breite, sehnige und fleischige
Nacken. Von Netzfurchen
durchzogene Nacken, zarte Nacken.
Manche waren unter Mützen, Kappen,
Kragen versteckt. Die Straßenbahn
hielt, ein paar Frauen stiegen zu,
ein paar Werftarbeiter. Einer
drehte ihr den Rücken zu. Trug
Edgar nicht so eine Jacke? Das
Stück Haut zwischen Haar und
Kragen des Mannes schimmerte in
schmutzigem Weiß. Schmierfett.
Staub. Von einem Leberfleck nicht
die geringste Spur.
Vor allem der
Geruch nach Öl, dieser flüchtige
Geruch, den sie abgeschüttelt
hatte, damals im Wirtshaus, als
Edgar seine Hand auf ihre Schulter
gelegt hatte und sie nach Hause
gegangen war. Greta schlenderte
durch den Garten und kaute auf
Grashalmen. Dieser flüchtige
Geruch, wenn er ihr die Münzen
hinhielt, den Fahrschein
entgegennahm. Manchmal hatte sie
geglaubt, ihn sich einzubilden.
Doch er haftete ihr in der Nase
und ließ sich nicht verscheuchen
von dem Duft nach Wolle und
blühendem Flieder. Dieser
flüchtige Geruch, der seinen
Händen entwich, die Rost klopften,
Bootswände strichen, Ankerwinden
schmierten. Händen, die schlank
war im Gegensatz zu seinem
kräftigen Körper.
Sie stolperte
über Seile, die um Poller
gewickelt waren, als sie im Hafen
nachfragte. Ob jemand von Edgar
gehört habe, Edgar Marek? Welches
Schiff?, fragten die Matrosen.
Greta zuckte die Achseln, und die
Matrosen hoben bedauernd die
Schultern. Tja dann. Im Wirtshaus
qualmte es weniger als sonst.
Stand weniger Bier auf den Tischen
als sonst. Saßen weniger Männer
als sonst. Der Krieg. Die Wirtin
hielt eine weinende Frau im Arm.
Bei jedem Schluchzen wogte ihr
Busen unter dem dünnen Kleid. Ihr
Mann, formte die Wirtin mit den
Lippen. Greta bestellte Fassbrause
und schaute über die runden Tische
mit den großen Aschenbechern,
Männer klopften sich auf die
Schultern, gingen allein oder zu
mehreren hinaus. An der Tür gab
einer mit Schiebermütze einem die
Hand, der mit dem Rücken zu Greta
stand. Er trug ein Halstuch. Greta
sprang auf. Edgar war es nicht.
(…)
An einem
Morgen, in dem Nebel in den
Zweigen hing und Spinnweben nass
in der Sonne glänzten, saß Edgar
wieder in der Straßenbahn. Monate
waren vergangen, und Greta zuckte
vor Freude zusammen. Einmal die
Sechserkarte?, fragte sie.
(…)
|