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Judith Hermann
“Eine Geschichte nimmt mich an die Hand”

Aus: „Keine Angst vor großen Gefühlen“ – Die neuen Schriftstellerinnen, edition ebersbach 2001 und Fischer Taschenbuch Verlag 2003
Von Wiebke Eden

Vielleicht sind Judith Hermann und ich uns einmal am Deich von Hooksiel begegnet, haben in derselben Stunde gesehen, wie sich die Nordsee zurückzog und gerilltes Watt hinterließ. Vielleicht haben wir uns im „Godewind“ getroffen, dem Szenecafé von Jever, sie saß mit Freunden an dem großen viereckigen Holztisch in der Mitte, ich mit einer Freundin an einem der marmornen Coffee Tables am Fenster. Wir wissen nicht, ob wir uns gesehen haben, damals, als sie sechzehn oder siebzehn war und ich zwei Jahre älter. Wir wissen, dass wir zur selben Zeit in Friesland waren, ich, weil ich dort lebte und zur Schule ging, sie, weil ihre Großmutter dort wohnte und ihr herzenswarme Ferien ermöglichte. Judith Hermann fühlte sich wie Dünengras mit der spröden Küste verwachsen und reiste oft aus Berlin an.

Wir erinnern uns nicht aneinander, als wir zum Interview zwischen den blau gestrichenen Wänden eines ihrer Zimmer sitzen und sie von Sommern am Meer erzählt. Wir lachen. Vielleicht hätten wir uns in Friesland verabreden sollen, auf einer Bank am Strand, zum Tee im „Godewind“?

Statt dessen Prenzlauer Berg. Statt Kleinstadtcafé ein hochwandiges Refugium mit dem nostalgischen Charme von abblätterndem Schleiflack, Stuckverzierung, Messingkronleuchtern. Im Flur gestapelte Bücher, aneinandergereiht wachsen Türme an der Wand, mit dem Buchrücken nach außen. Im blauen Zimmer eine Chaiselongue mit Brokatbezug. Eine Pyramide aus Koffern, wie Menschen sie in den 20er Jahren packten. Darauf ein Spiegel. Ein Metallgestell lehnt vertikal an der Wand und buchstabiert in roten Lettern „Salon“. Es muss einmal einen Laden beschriftet haben. Einen „Friseursalon“? Einen „Teesalon“?

Als Schriftstellerin hat sich Judith Hermann über Nacht einen Namen gemacht. An einem Winterabend Ende 1998 besprach das „Literarische Quartett“ ihren Erzählband „Sommerhaus, später“. „Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein“, Marcel Reich-Ranicki ließ sich der überschwänglichen Worte nicht lumpen. „Der Sound einer neuen Generation“, bekräftigte Hellmuth Karasek. „Ganz wunderbare Geschichten, erzählt wie mit halbgeschlossenen Lidern“, befand Gastkritikerin Andrea Köhler. Die Republik fiel ein in den Jubelgesang und Judith Hermann hielt sich eines Tages die Ohren zu. Sie hatte ihre Ruhe verloren, die wollte sie wiederhaben, um neue Geschichten schreiben zu können.

Eigentlich kam der Ruhm zu schnell, sagt sie. Ein gutes Jahr vor der Veröffentlichung von „Sommerhaus, später“ hatte sie noch nicht einmal gewusst, dass sich in ihr schriftstellerisches Talent räkelte. Sie ist keine derjenigen, die immer schon geschrieben haben. Sie fing mit 26 an. Da war sie Schülerin an der Berliner Journalistenschule und wollte Reporterin werden. Geschichten von Menschen wollte sie erzählen, Porträts verfassen, Reportagen. Sie saß im Unterricht von Egon-Erwin-Kisch-Preisträger Alexander Osang. Der hatte vor seinem Büro in der „Berliner Zeitung“ ein Schild hängen: „Alexander Osang – Reporter“. Sie träumte: „Judith Hermann – Reporterin“. Alexander Osang würde sie entdecken. Sie bekam eine Hausaufgabe: Das Porträt eines ehemaligen DDR-Offiziers, der auf einem alten Russenarmeehof in der Uckermark eine Flugschule betrieb. Judith Hermann schrieb und war sich ihrer „Sache sicher“. Alexander Osang fing mit der besten Reportage an und hörte mit der schlechtesten auf. Er zählte rückwärts. Zehn, neun, acht. Bei fünf begann sie auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Bei drei brachte sie kaum mehr ein tapferes Lächeln zu Stande. Bei zwei würgte sie die ungute Gewissheit: „Ich hatte die schlechteste Reportage geschrieben“, Judith Hermann grinst, „Oh Mann“, schüttelt den Kopf, grinst wieder. Die schlechteste Reportage. Sie habe sich nicht entscheiden können zwischen Reportage und Erzählung, kritisierte Koryphäe Osang. Die Geschichte sei an der Person vorbei erzählt. Die Letztplatzierte ging nach Hause, niedergeschmettert. Aus. Das war’s. Kein Büroschild, vor dem künftige Journalistenschüler ehrfurchtsvoll stehen bleiben. Nichts. Sie beendete die Schule und ging nach New York. Drei Monate Volontariat an einer kleinen deutschsprachigen Zeitung. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler wählten, in der Hoffnung auf große Laufbahnen, zwischen den renommierten Blättern der Nation. Das hätte sie auch probieren können. Nun nicht mehr. Karriere? Wie hatte sie nur auf diesen absurden Gedanken kommen können.

In New York litt sie an Heimweh. Sie schrieb viele Briefe nach Hause, an die Familie, an Freunde, und erzählte ihnen aus dem Schmelztiegel der Menschen dieser Welt. Geschichten entstanden, durch die sie die Stadt für sich und die anderen zu greifen suchte, Geschichten, durch die sie Kummer und Alleinsein bewältigte und sich schreibend selbst Gesellschaft leistete. Die vermasselte Reportage bei Osang blockierte den Schreibfluss nicht mehr, denn jetzt gelang es ihr, zu einem eigenen, einem literarischen Stil zu finden. „Ich denke, ich habe in New York angefangen zu schreiben, erzählerisch zu schreiben und mich von journalistischen Vorgaben zu lösen“, sagt Judith Hermann. Als sie nach einem halben Jahr nach Berlin zurückkehrte, merkte sie, „dass das Erzählen ein Bedürfnis ist, mit Wirklichkeit umzugehen, Dinge zu halten, indem man sie aufschreibt und ordnet.“ Sie bewarb sich um ein Schreibstipendium. Sie bekam es. An einem verschneiten Januartag 1997 fuhr ihre Freundin sie nach Wewelsfleth, einem beschaulichen Dorf an der Elbe, anderthalb Stunden von Hamburg entfernt. Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hatte hier gewohnt. Als er wegzog, verschenkte er sein Domizil als Stipendiatenhaus an die Akademie der Künste. „Der Ort ist so still, dass man dort nichts anderes machen kann als zu schreiben. Der Autor geht dort in Klausur“, sagt Judith Hermann. „Man muss wissen, ob man das kann.“ Sie reiste nachts an, es war unheimlich kalt und finster, das Grass-Haus kaum zu finden. Die Einsamkeit machte sie panisch. „Hier bleib’ ich nicht“, versicherte die Chauffierte ihrer Chauffeurin, „das ist ja total bescheuert, hier fünf Monate zu sitzen, während ihr in Berlin wer weiß was macht. Wir übernachten hier und fahren morgen wieder weg.“ Am nächsten Morgen sah sie aus dem Fenster und wusste, dass sie bleiben würde. Das Haus zeigte sich im jungen Tageslicht als alte Kirchspielvogtei aus dem 14. Jahrhundert, im Fachwerkstil mit Garten. Dahinter harrte eine Kirche der Gläubigen. In wenigen Minuten ließ die Spaziergängerin das Dorf hinter sich, betrat Feldwege, die an kahlen Apfelbaumplantagen vor bei führten. Die Elbe lag unter Eis. In der Fahrrinne schoben sich gemächlich Frachter vorwärts. „Der Rest der Landschaft war flach und weiß, fast wie eine Mondlandschaft“, lässt die Erinnernde das Ankunftsbild neu entstehen. Die Sonne schien am hohen Himmel. Die Klarheit der Eindrücke fegte „auf eine gute Art“ ihren Kopf leer.

„Ich bin nie zuvor so allein gewesen wie da“, sagt Judith Hermann. Den zwei Mit-Stipendiaten, mit denen sie das Haus teilte, begegnete sie kaum. Man tauschte sich nicht aus, man zeigte sich seine Geschichten nicht, hörte den anderen allenfalls auf die Tastatur einhämmern. „Ich glaube, wir hatten Angst, dass der andere so Furcht erregend gut ist, dass man gleich seine Sachen packt und nach Hause fährt.“ Die schriftstellernde Einsiedlerin machte sich einen Stundenplan, schrieb am liebsten vormittags und ging jeden Tag an die Elbe. Sie erlebte den sukzessiven Wechsel der Jahreszeiten, die aufkommende Bodenwärme, das Aufbrechen der Knospen. Immer wehte Wind. Einmal, es war noch Winter, rüttelte der Wind tagelang am Haus. Judith Hermann konnte es irgendwann kaum mehr aushalten und wünschte sich sehnlichst Stille. (...)

Buchtitel
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Wiebke Eden
Keine Angst vor großen
Gefühlen, edition ebers-
bach, Berlin 2001.
142 Seiten, zahlr. Fotos,
Klappenbroschur, 20,10
Euro.
ISBN 3-934703-26-7
 
Buchtitel
leer
auch als Taschenbuch:
Fischer Taschenbuch
Verlag, Frankfurt am Main
2003.
9,90 Euro.
ISBN 3-596-15474-X
 
   
Leseprobe
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