Aus:
„Keine Angst vor großen
Gefühlen“ – Die neuen
Schriftstellerinnen, edition
ebersbach 2001 und Fischer
Taschenbuch Verlag 2003
Von Wiebke
Eden
Tanja Langer
ist keine Alberta. Alberta ist
dick und liebte es schon als Kind,
„ihre Finger in seidige
Buttercremes, luftige Soßen oder
geschmeidigen Teig zu stecken“.
Als Erwachsene geht sie jeden
Mittwoch Nachmittag in die
Konditorei, um über
kalorienreichen Träumen aus Sahne
und Schokolade Franz, den Kellner,
anzuhimmeln. Alberta hat einen
robusten Magen und ist Hauptfigur
der Erzählung „Baba Rum“. Tanja
Langer hat seit jeher einen
empfindlichen Magen und ist
Autorin der Erzählung „Baba Rum“.
Sie hat sie für eine Zeitschrift
(MAGAZIN, 10/99) geschrieben.
Tanja Langer
wirkt zarter als auf den Fotos
ihres Verlages. Sie trägt einen
kurzen Pullunder, unter dem das
karierte Hemd hervorschaut. Ihre
Haare hat sie lustig hochgebunden.
Sie lacht gern. Manchmal hat sie,
gesteht sie, kindliches Vergnügen
daran, sich vorzustellen, dass
jemand da ist, der gar nicht da
ist. Das hat mit ihrer Lust am
Surrealen zu tun: „Manche Dinge
können intensiv erlebt werden,
obwohl sie nicht eigentlich
greifbar sind.“
Auch in ihrer
Literatur spielt sie mit
Überwirklichem, mit Tagträumen und
Bildern, die vorm inneren Auge
einer Hauptfigur auftauchen. Wie
in „Cap Esterel“, ihrem ersten
Roman. Das Buch erzählt die
Geschichte eines Mannes, der sich
während einer Reise an die
südfranzösische Küste an seine
Vergangenheit erinnert. Seine
Sinne haben Bilder gespeichert,
die wieder hervorgeholt werden und
neue heraufbeschwören, als er eine
Unterkunft bezieht, die er schon
einmal bewohnt haben muss, als er
das Rauschen des Meeres hört, das
mit einem tragischen Erlebnis in
Verbindung steht.
Vergangenheit
und Erinnerung bestimmen die
Literatur von Tanja Langer immer
wieder. „Was spielen Vergangenheit
und Erinnerung für eine Rolle in
unserem heutigen persönlichen
Dasein?“, fragt sie. „Wie hat uns
Vergangenes geprägt? Wie gehen wir
damit um und, im weiteren auch,
wie geht man in unserem Land damit
um?“ Eigene und gemeinsame
Vergangenheit hängen zusammen und
schreiben sich über Generationen
in die Menschen ein, sagt Tanja
Langer.
In ihrem
Hörspiel „Fluchtpunkte“ versucht
eine Frau sich über sich selbst
klar zu werden, indem sie die
eigene Vergangenheit mit der
Flüchtlingsvergangenheit ihrer
Familie zusammensetzt. Die
Erinnerungen und Erfahrungen ihrer
Familie haben sie geprägt und sind
Teile ihrer Identität.
In ihrem
gerade entstehenden Roman „Der
Morphinist“ hinterfragt eine junge
Mutter eigene Werte, als sie mit
der Lebensgeschichte des
Faschisten und Hitler-Freundes
Dietrich Eckart konfrontiert wird.
Sie sei ein
typisches Kind der späteren
Nachkriegszeit, sagt die 1962
geborene Tanja Langer. Sie sei
damit sozialisiert worden, sich in
der Auseinandersetzung mit der
eigenen Identität auf den
Nationalsozialismus und Holocaust
zu beziehen. Ihre Eltern waren
Kinder und Jugendliche im Dritten
Reich.
Inzwischen ist
sie selbst Mutter von drei Kindern
und erinnert sich. „Ich spüre im
Umgang mit meinen Kindern, dass
ich mit vielem aus meiner Kindheit
und Jugend wieder in Berührung
komme.“
Die drei
Töchter wachsen in einem
honiggelben Mietshaus mit Garten
in Berlin-Schlachtensee, einem
Teil von Zehlendorf, auf.
Zehlendorf, das den
Mitte-Berlinern meist zu weit
draußen liegt und naserümpfend als
Gegend der Betuchten abgetan wird.
Alles Vorurteile, findet Tanja
Langer. In einer Zeitungsglosse
über das literarische Leben in
Berlin erzählte die Autorin von
Schlachtensee, schrieb, dass es
natürlich „entsetzlich wohlhabende
Leute“ dort gibt, die BMW’s als
Zweitwagen fahren, Luxusvillen mit
Swimmingpool bewohnen und „schön
unter sich bleiben“. Mitunter
erinnert sich die ehemalige
Schönebergerin dann wehmütig an
die Hinterhausfenster, die Döner-
und Hähnchenbuden und das
„Multikulti-Stimmengewirr“. Doch
der Sommer am Schlachtensee
entschädigt für vieles. „Am
Wochenende finden viele andere
Berliner dann plötzlich auch, dass
es angenehm ist, im luftigen Wald
und am erfrischenden See zu sein.
Im Zehn-Minuten-Takt werden sie
von der S-Bahn ausgespuckt,
käsebeinige Horden mit Badematten,
Radios, Kind und Kegel, die sich
am Abend als Rothäute wieder
trollen müssen. (Wir kriegen
keinen Sonnenbrand, wir sind ja
immer draußen.)“ Ihre Kinder
jedenfalls kann sie in dem
beschaulichen Ort unbesorgt zum
Brötchen holen schicken. An diesem
Nachmittag sind die Mädchen nicht
da: „Dass hier stundenlang Ruhe
ist, kommt selten vor“, sagt ihre
Mutter beim Interview in der Küche
und räkelt sich auf dem Stuhl. Ein
Bein hat sie hochgezogen, auf das
Knie stützt sie ihren Ellenbogen.
Auf dem Boden liegen Bauklötze.
Tanja Langer
ist in Wiesbaden geboren und
aufgewachsen. Geschwister hat sie
keine. Ihre Eltern führten ein
Restaurant. Die Mutter kochte, der
Vater kellnerte. Nach dem Abitur
ging sie nach Paris. Sie hatte an
ihrer Schule, einem humanistischen
Gymnasium, Französisch nur in
Nachmittagskursen belegt. In
Frankreich wollte sie es richtig
lernen. Sie hatte beste
Bedingungen: Sie besuchte die
Sorbonne – an der Universität
hatte schon Simone de Beauvoir
studiert.
Auf Paris
folgten München und ein Politik-
und Philosophiestudium. Doch Tanja
Langer fand München „schrecklich“,
der Föhn machte ihr Kopfschmerzen,
und so zog sie nach Berlin,
studierte fortan vergleichende
Literaturwissenschaft und
Philosophie. Sie überlegte,
Journalistin zu werden.
Fernsehpraktika beim ZDF in
München und Mainz sollten sie auf
den Weg bringen. Doch gefiel ihr
der Journalismus nicht, eher die
Fotografie, auf die sie in den
letzten Semestern ihres Studiums
kam. „Ich entwickelte in der Zeit
eine Weigerungshaltung gegenüber
der Sprache“, erinnert sie sich.
„Ich dachte, Bilder wären meine
Sache.“ Dann stieß sie auf das
Theater – Sprache und Bilder
verschmolzen für sie wieder.
Tanja Langer
las alles von Henrik Ibsen,
Tennessee Williams, Eugene
O’Neill. Sie liebte Shakespeare
und vor allem sein Werk „Antonius
und Cleopatra“. Eines Tages hörte
sie, dass die Freie Volksbühne
dabei war, das Drama um die
ägyptische Königin und ihren
Liebhaber, der zudem selbst ein
großer Staatsmann war, zu
inszenieren. Die Noch-Studentin
war zu neugierig, als dass sie
sich hätte bremsen können –
kurzerhand suchte sie die
Theaterproben auf. Sie schlich vom
Foyer zum großen Zuschauersaal,
traute sich aber nicht herein und
sprach beherzt eine Souffleuse an,
die in Richtung Klo ging. Ob sie
nicht vielleicht mal bei den
Proben zugucken könne? Die Frau
verschaffte ihr einen Termin beim
Dramaturgen, der wies auf einen
Stapel Mappen – Bewerbungsmappen.
Wer beim Theater hospitieren
möchte, der stelle sich
schriftlich an. Wieso sie sich
ausgerechnet für „Antonius und
Cleopatra“ interessiere, fragte
der Dramaturg. Sie begann zu
schwärmen, der Dramaturg merkte:
Die kennt sich aus – und ließ sie
ein. Das Studieren geriet zur
Nebensache, denn das Agieren und
Probieren auf der Bühne erforderte
Tanja Langers ganze Aufmerksamkeit
– sie ließ sich ein, voll und
ganz. Als sie hörte, dass sich an
der Uni eine Theatergruppe
gegründet hatte, schloss sich
Tanja Langer ihr an und begleitete
die Inszenierungen. In ihrer
ersten Regie brachte sie
Shakespeares „Othello“ auf die
Bühnenbretter. Das sei ihre
publikumswirksamste und
erfolgreichste Inszenierung
gewesen, erzählt sie schmunzelnd:
„Wir haben das ganz unbekümmert
gemacht und mit fünf Frauen und
einem Mann eine wilde,
experimentelle Kurzversion von
Othello improvisiert.“ Mit „Mühe
und Not“ beendete sie ihr Studium.
Sie wollte endlich nur noch
Theater machen und tauchte in die
freie Theaterszene Berlins ein,
stellte dort eigenhändig
Produktionen auf die Bühne,
engagierte Spieler und
Bühnenleute. Finanzieren konnte
sie ihre Arbeit durch Stipendien,
und ihr Mann fütterte sie mit
durch.
Das
Theaterleben hatte ein Ende, als
sie Tochter Josefine bekam. Das
Kind war neun Monate alt, als
Tanja Langer ihre letzte
Produktion einstudierte, „Delirium
zu zweit“ von Ionesco. Sie war
tagsüber für ihre Tochter da und
ging abends zu den Proben. Ihre
Kräfte verschlissen, sie fühlte
sich völlig ausgelaugt und
erschöpft und setzte einen
Schlussstrich unter das
Theaterleben.
Und nun?
Verstärkt durch das Kind spürte
sie einen enormen Druck, Geld zu
verdienen. Sie fing an zu
schreiben, wieder an zu schreiben.
Ihr erstes Gedicht hatte sie im
zarten Alter von neun Jahren
verfasst. Zwischen zwanzig und
dreißig waren viele Geschichten
entstanden, die sie in der
Schublade abgelegt hatte. Obwohl
es damals immer ihr Wunsch war, zu
schreiben, dachte sie: Meine Texte
sind nicht gut genug. Was habe ich
schon zu erzählen? Sie hatte den
Ton von Marcel Proust, Rainer
Maria Rilke und Virginia Woolf im
Ohr, dagegen erschienen ihr die
eigenen Sätze klein und kläglich.
„Nein, nein, ich habe nichts zu
erzählen.“
Das Theater
hatte sie erstmals wieder zum
Schreiben gebracht. Sie schrieb
das Stück „Ich bin die Nacht“ über
Selma Meerbaum-Eisinger
(1924-1942), eine jüdische
Dichterin, die im Arbeitslager
Michailowska an Flecktyphus
gestorben war. Danach entwickelte
sie „Hagazussa“, ein Hexenstück
für Kinder und Jugendliche, das
beim Deutschen
Jugendtheatertreffen ausgezeichnet
wurde.
Das Theater
half ihr, mit dem gedachten Wort
offen umzugehen, es ohne Scheu an
die Öffentlichkeit zu geben. Als
sie sich nun aus der Szene
zurückgezogen hatte, schrieb sie
ein drittes Stück, „Fluchtpunkte“,
das sie den großen Theaterverlagen
anbot. Man lobte die Geschichte,
vor allem die Sprache und riet
ihr, Prosa zu schreiben. Aus dem
Stück entstand ein Hörspiel.
„Fluchtpunkte“
erzählt in lyrischem Stil von
einer Familie, die nach dem Krieg
aus Oberschlesien in den Westen
geflohen ist. Während des Zweiten
Weltkriegs befanden sich allein
vierzehn Millionen Deutsche auf
der Flucht. Das zerstörte Land
musste sich nicht nur durch den
materiellen Aufbau, sondern auch
durch die Umsiedlung ganzer
Familien neu ordnen.
Für den Hörer
müssen sich auch die
„Fluchtpunkte“ erst ordnen. Die
Autorin hat ihre Geschichte
collagenartig zusammengesetzt.
Stimmen sind zu hören, jüngere,
ältere Stimmen aus verschiedenen
Zeiten, die von Flucht erzählen,
vom Leben im Auffanglager, vom
Leben im Aufbau. Scheinbar
zusammenhanglose Fragmente aus
Erinnerungen und Erzählungen
werden nach und nach zu einem Bild
montiert. „Man denkt und erinnert
ja in Splittern“, begründete Tanja
Langer einmal ihre Erzähltechnik,
„man fügt oftmals Bilder zusammen,
interpretiert sie neu, setzt sie
nochmals anders zusammen und hört
eine andere Stimme dazu.“ Eine
Stimme in dem Stück gehört einer
Nachfahrin, möglicherweise einer
Enkelin der Familie, einer jungen
Frau der Gegenwart. Sie wird mit
den Erzählungen der Älteren
konfrontiert und träumt
Landschaften, die sie nicht kennt.
Sie versucht sich in die
Erlebnisse der Mutter einzufühlen,
um Klarheit über das Verhältnis zu
sich selbst zu gewinnen. Sie
versucht zu ergründen, was hinter
den Geschichten steckt, die sie zu
hören bekommt, Geschichten, die zu
Klischees erstarrt sind und selbst
von denjenigen, die sie erlebt
haben, immer gleich repetiert
werden. „Wir waren noch Kinder,
jaja.“ „Wir hatten ja nichts
damals.“ „Wir sind doch nicht
schuld.“ Tanja Langer wünscht sich
einen differenzierteren Blick auf
die Vergangenheit, kein
Festkrallen, sondern Offenheit und
eine facettenreiche
Auseinandersetzung. „Ich lehne die
Debatte ab, nach der ein
Schlussstrich unter deutsche
NS-Vergangenheit gezogen werden
soll. Das ist dumm, so etwas zu
sagen. Andererseits hat Martin
Walser schon Recht, wenn er sagt,
dass die moralische Keule
Auschwitz zu oft strapaziert
werde. Das kann den Blick
versperren und dazu führen, dass
man gar kein Verhältnis zur
Geschichte hat und Vergangenheit
zu Klischees gerinnt.“ Nur ein
gutes Verhältnis zur Vergangenheit
ermöglicht in ihren Augen ein
gutes Verhältnis zur Gegenwart und
Zukunft, das gilt für den Menschen
selbst und für die Gesellschaft
und ihr Land.
Josefine war
zwei, als Tanja Langer wieder
schwanger wurde. Mit Zwillingen.
„Alle fragen mich, ob das nicht
ein Schock gewesen sei. Ich musste
damals furchtbar lachen, als ich
es erfuhr, denn es passte
eigentlich überhaupt nicht“, sagt
sie und lacht wieder, der Zopf auf
ihrem Kopf wackelt. „Ich dachte,
mich tritt ein Pferd. Aber dann
empfand ich es als Geschenk,
Zwillinge zu kriegen.“ Nur, drei
Kinder wollen versorgt sein, da
brauchen nicht mehr nur zwei Füße
neue Winterstiefel, sondern sechs.
Plötzlich fühlte sich Tanja Langer
trotz des erwerbstätigen Ehemanns
dazu herausgefordert, ihre Talente
zu bündeln und innerhalb kürzester
Zeit herauszufinden, was sie kann,
um damit Geld zu verdienen.
„Gerade als ich zwillingsschwanger
war, wusste ich: Jetzt musst du
dein Leben in die Hand nehmen. Das
spielerische Suchen und Tasten ist
in die Literatur gewandert. Meine
Töchter haben mich erwachsen
gemacht.“
Eine Freundin
riet ihr, Rezensionen zu
schreiben: Du erzählst doch so
schön über Bücher. So schrieb sie
über die amerikanische Lyrikerin
Anne Sexton und bot die Rezension
dem „Tagesspiegel“ an, der nahm
sie sofort und Tanja Langer muss
sich seitdem keine eigenen Bücher
mehr kaufen. Es blieb nicht nur
bei den Rezensionen im
„Tagesspiegel“, es folgten
Besprechungen in der
„Literarischen Welt“ und in der
deutschen „Financial Times“. Tanja
Langer machte sich einen Namen als
Kritikerin.
In der Küche
stapeln sich die Bücher. Doris
Dörries „Was machen wir heute?“,
Katrin Askans „Aus dem Schneider“,
Marlene Streeruwitz’ „Nachwelt“.
„Die Auseinandersetzung mit
zeitgenössischer Literatur hat mir
die Angst vorm Schreiben
genommen“, weiß Tanja Langer
heute. „Es ist nicht die Literatur
von Rilke oder Proust, sie ist
aber trotzdem lesenswert und
wichtig.“ Es gibt Gedanken und
Erfahrungen, die es wert sind,
aufgeschrieben zu werden.
Die Geschichte
zu „Cap Esterel“, ihrem ersten
Roman, wuchs lange in ihrem Kopf.
Es gab eine erste Idee, die sie
nicht weiter auszuführen wusste:
Sie war fasziniert von Naturlyrik,
befasste sich mit dem
literarischen Topos des Wassers.
Als sie mit ihrer Freundin Urlaub
in Frankreich machte, kam ihr eine
Geschichte in den Sinn: Jemand
hatte ihr von einem kleinen Jungen
erzählt, der seine Eltern im
Badeurlaub verlor. Mit ihrer
Freundin befand sie sich an einem
Ort, an dem sich das tragische
Unglück hätte ereignet haben
können. Sie fing noch in
Frankreich an zu schreiben und
hatte das Buch trotz Haushalt,
Kinder und Rezensionen innerhalb
eines Jahres fertig: „Plötzlich
fügte sich alles wie von selbst“,
erinnert sie sich, noch immer
verblüfft darüber, wie reibungslos
Kreativität funktionieren kann.
„Das war wie ein Kurzschluss:
Dinge, die weit auseinander lagen,
gingen im Kopf automatisch eine
Verbindung ein.“
Wie
„Fluchtpunkte“ bildet „Cap
Esterel“ eine Collage aus Stimmen
verschiedener Zeiten. Hélène,
Michels Mutter, schreibt Anfang
der Siebziger Jahre einer
imaginären Freundin Briefe über
ihre Sommerliebe, einen
Eisverkäufer, der die verheiratete
Mutter zweier Kinder in der
Abwesenheit des Ehemannes glühen
lässt.
Elisabeth, die
feurige Elisabeth und Geliebte
Michels, erzählt in der Gegenwart
von ihrem Kennenlernen und Michels
Schwierigkeiten mit der Liebe.
Michel selbst
spricht nicht, von ihm wird
erzählt. Er fährt an die Côte
d’Azur, nach St. Raphael, weil er
eine Beziehungskrise hat und
allein sein möchte. Unbewusst hat
er ein Reiseziel gewählt, das ihn
mit dem tragischen Sommer im Jahr
1972 konfrontiert, einem Sommer,
den er mit seinen Eltern und
seinem Bruder in Südfrankreich
verbracht hatte.
„Wieder lag er
auf dem warmen Sand, auf dem
Rücken, die Arme weit von sich
gestreckt; in jeder Hand hielt er
einen Stein. Die Sonne brannte
schon etwas, aber ein leichter
Lufthauch strich über seinen
entspannten Körper. Die Stimmen
der Menschen, die sich Bälle
zuwarfen, ins Wasser liefen, das
Glöckchen am Eiswagen, der immer
wieder vorübergeschoben wurde,
alles verlor sich im gleichmäßigen
Geräusch des Wellenschlags. Das
Meer, das er all die Jahre
gemieden hatte, schmeichelte
seinem Ohr. Er fühlte sich wohl,
getragen und losgelöst zugleich.
Ein Papierschiffchen im
dunkelblauen Wasser. Eine leichte
Erregung durchlief ihn, und in
schneller Folge sah er in seinem
Inneren Bilder kommen und gehen.
Das alte Foto seiner Mutter, das
er immer bei sich trug, aber nie
ansah, schwebte vorüber, es
flatterte, als spielte es mit ihm.
Er sah die feinen weichen Züge
eines nicht mehr ganz jungen,
lachenden Frauengesichts, in das
helle Haarsträhnen wehten. Es
zeigte sich und verschwand, als
hätte jemand die Aufnahme mit
einer Videokamera abgefahren,
dabei rasch wechselnd von
einzelnen Details, den langen
Wimpern, einer Augenbraue, über
die Wange hin zur gesamten
Erscheinung, aus immer neuen
Perspektiven, aus immer anderer
Entfernung. Das Bild geriet in
Bewegung, seine Mutter sah ihn an,
sie sagte etwas, sie wandte sich
ab, schüttelte den Kopf, sie lief
auf ihn zu und wieder fort.
Plötzlich kippte alles, und er sah
Elisabeth.“ (Aus: Cap Esterel)
Der
Zusammenhang zwischen Erinnerung
und Sinnlichkeit, zwischen innerer
Wahrnehmung und äußerer
Erscheinung ist ein Thema in Tanja
Langers Debüt. Schon Marcel Proust
schrieb in der „Suche nach der
verlorenen Zeit“: „Eine Stunde ist
nicht nur eine Stunde; sie ist
eine mit Düften, mit Tönen, mit
Plänen und Klimaten angefülltes
Gefäß. Was wir die Wirklichkeit
nennen, ist eine bestimmte
Beziehung zwischen Empfindungen
und Erinnerungen, die uns
gleichzeitig umgeben.“ Darum
geschieht es, dass etwa der Geruch
einer Erdbeere an längst
vergangene Kindheitssommer denken
lässt oder der Klang eines Liedes
an den ersten Kuss. Bei Tanja
Langers Protagonist Michel ist es
die Umgebung, das Haus, in dem er
in jenem tragischen Sommer bei
seiner Mutter und seinem Bruder
die Ferien verbracht hatte, es
sind das Meer und der Sand, die er
fühlt und die ihn Bilder sehen
lassen, die er in sich
verschlossen hatte. Seine Sinne
öffnen die Erinnerungen. Dabei ist
das Meer kein
willkürlich-sinnlicher Bestandteil
einer Urlaubslandschaft, sondern
eine mehrdeutige Metapher. Wasser
steht bildlich für Fließen –
Erinnerungen kommen in Fluss, es
gerät etwas in Bewegung, etwas,
das Michel abverlangt, sich etwas
anzusehen, das er lange geweigert
hat, sich anzusehen. Welche
Konsequenzen er daraus für sich
und sein Liebesleben zieht, bleibt
offen.
Überdies und
letztendlich steht Wasser in der
Geschichte für drohenden Verlust.
Der Leser ahnt das Unglück nur
durch Andeutungen, wie im
Krimiplot zieht die Geschichte ihn
in einen Sog, bis unvermittelt und
unspektakulär die den Atem
raubende Auflösung kommt. Trotz
des drohenden Unheils, das der
Leser in der Erzählung spürt,
durchzieht den Roman eine
flirrende Leichtigkeit und
virtuose Erzählkraft. „Leicht und
traurig – das bin ich, das habe
ich in mir“, sagt Tanja Langerund
ihre Stimme klingt ein wenig zart,
im nächsten Augenblick wieder
entschlossen. „Man muss den Leser
in eine Geschichte hineinziehen,
muss ihm aber auch Luft geben. Er
darf nicht erschlagen werden oder
im Modder versinken.“
An ihrem 36.
Geburtstag hatte sie das
Manuskript zu „Cap Esterel“ fertig
und las es Freunden vor. (...)
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